Als die Stühle klettern lernten
oder

Die Reise nach Jerusalem endete in Verona

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Wenn die Tage länger und die Röcke der Mädels kürzer werden, wenn der Sonnenbrand der Osterschitour allmählich am Abklingen ist, wenn man bei Riesen-Eisberg nicht mehr an Mont Blanc, sondern an den grossen Eisbecher der Stamm-Eisdiele denkt, dann ist so richtig Frühling.

Wenn dann noch einer der günstig gelegenen Feiertage näher rückt und auf der Alpennordseite nochmal ein Restposten Kaltluft einströmt, dann macht sich halb Bayern auf und belagert an den norditalienischen Seen die Surfreviere, Bikerouten und Kletterfelsen, - und natürlich die Strassen dahin.

Nachdem wir uns in den letzten Jahren dieser Bewegung durch eine Gegenattacke Richtung Nordwesten – in die Pfalz – entzogen hatten, schlossen wir uns diesmal dem Zug der Lemminge nach Süden an; das heisst genaugenommen zogen wir ihm etwas voraus und ausserdem schossen wir etwas übers übliche Ziel – den Gardasee – hinaus und landeten schliesslich in Verona. Wir, das war die sogenannte Jungmannschaft, obwohl der Begriff hier ziemlich irreführend ist. Erstens war die Hälfte der Jungmannen weiblich und zum anderen musste zum Drücken des Durchschnittsalters auf unter 30 Lenze schon ziemlich tief in die Trickkiste – respektive Krabbelgruppe – gegriffen werden.

Als alle Pseudo-Jungmannen auf dem Campingplatz bei Verona eingetroffen waren, musste man feststellen, dass es trotz des gesetzten Alters eines Grossteils der Mitfahrer mit dem Hinsetzen ein Problem werden würde.

Bei der Einteilung der Fahrgemeinschaften hatte der Ex-Jungmannschaftsleiter nämlich übersehen, dass die Fahrzeuge nun nicht mehr so auszulasten waren, wie er es von seiner aktiven Dienstzeit gewohnt war und  gleichzeitig auch noch alle Utensilien mitgeführt werden konnten, die mittlerweile notwendig sind, um die zwischenzeitlich ins Luxuriöse gestiegenen Ansprüche der Einzelnen zu befriedigen.

Man kann diesen Fehler allerdings nicht alleine dem Altjungmannschaftsleiter anlasten. Mitschuld an dem Malheur war sicher auch der württembergische Ableger unserer Jungmannschaft aus Maulbronn, genannt die Maulis. Diese hatten nämlich bei den vergangenen Pfalzausfahrten – ihren Heimspielen – die Leute dermassen verhätschelt, dass sowohl Organisationstalent als auch Bereitschaft zur Askese total verkümmerten.

Doch zurück auf den Campingplatz von Verona, wo die Campingstühle grosse Mangelware waren.

Einige besonders versnobte Jungmannschaftler hatten es zwar geschafft, den einen oder anderen Hocker in die überladenen Boliden zu quetschen, dies machte die Situation aber nur noch schwieriger, da nun heftige Verteilungskämpfe um die wenigen Sitzplätze entbrannten. Der Campingplatz selbst war viel zu leer und aufgeräumt, als dass eine deutliche Entspannung der Situation zu organisieren gewesen wäre. Als man sämtliche Aspekte der trostlosen Lage einige Cappuccinotassen lang diskutiert hatte, wurde beschlossen, sich der traurigen Realität – wenigstens vorübergehend – durch Flucht an die nächstgelegenen Kletterfelsen zu entziehen.

An den Felsen von Stallavena gab es nun für jeden Geschmack soviel ausnehmend reizvolle Klettertouren, die alle auf eine Bekletterung geradezu warteten, dass man in der Eile des Gefechts den Ernst der Gesamtlage nahezu vergass.

Nebenbei bemerkt: ein gewisser Wirklichkeitsverlust scheint sowieso eine allgemeine Begleiterscheinung des widernatürlichen Herumkletterns an senkrechten Felsen zu sein.

Das Klettergebiet von Stallavena zeichnet sich besonders dadurch aus, dass es gerade für die weniger leistungssportlich orientierten Altjungmannschaftler genügend Routen anbietet, die sich einer Eroberung auch durch dekadente Genußspechte nicht ernsthaft widersetzen. Diese Routen verlaufen seltsamerweise nicht durch irgendwelche brüchigen, zugewachsenen Gräben, sondern über steilgriffigen Kompaktfels.

Irgendwann hatte jedoch auch der Kletterrausch ein milchsäurebedinges Ende und die Meute zog von dannen – ab in die Bar, die als geniale Zugabe ins Klettergebiet integriert ist. Beim Besuch der Bar wurden die gealterten Jumgmannschaftler durch die Unmenge der dort aufgestellten Sitzmöbel schlagartig wieder an ihr – im wahrsten Sinn des Wortes – hartes Los erinnert.

Angesichts dieses Überangebots durchzuckte natürlich den einen oder anderen der Gedanke, einigen der verlockenden Kneipenstühle, Barhocker oder Gartenstühle zu einem Ortswechsel zu verhelfen, doch die Idee wurde gleich wieder verworfen. Zum einen waren die Dinger einfach zu gut bewacht, zum anderen konnte man es sich mit dem Inhaber einer strategisch so wichtigen Kneipe wirklich nicht verderben.

Man war nun wieder zurück auf dem nackten Boden der Tatsachen – bzw. auf dem harten Boden des Campingplatzes. Die Anstrengungen zielten nun mehr in die Richtung, einen der wenigen dort vorhandenen Stühle zu ergattern. Aus diesem Grunde zogen sich die Mitglieder der Biker-Fraktion verdächtig früh und unauffällig aus dem Treiben in der Bar zurück, um sich in einem todesverachtenden Downhill-Race nach Verona hinunterzustürzen. Nicht einmal die rassigsten, langbeinigsten Schönheiten der veroneser Vororte konnten dabei die Radlermeute – von denen doch einige nicht als Kostverächter bekannt waren – ablenken, denn es war klar: Wer zu spät kommt, den bestraft die Isomatte.

Als schliesslich alle am Zeltplatz angekommen waren, hinderte nur ein unerwartet zu Tage tretender Rest von zivilisatorischen Verhaltensmustern die sitzmässig zu spät gekommenen, die Verteilung der Mangelware per Faustrecht zu regeln. Nur wenige fügten sich aber endgültig in ihr erdverbundenes Schicksal, andere versuchten weiter, doch noch etwas Abstand vom Boden zu bekommen, allerdings auf subtilere Weise.

Es galt, ein Mitglied der sitzenden Klasse irgendwie von seinem Thron herunterzu- bekommen.

 Relativ grobschlächtig und leicht zu durchschauen war noch der Versuch: ”Du, schau mal, die Stichflamme dort hinten, ist das nicht dein neuer Benzinkocher?”

Deutlich gemeiner waren die grosszügigen Angebote von Speisen und Getränken, wobei natürlich nur besonders harntreibende und stuhlbeschleunigende Nahrungsmittel angeboten wurden.

Demgegenüber war die am meisten verbreitete Methode, einen Stuhl zu erringen, schon wieder sportlich einwandfrei. Durch häufiges Nachschenken und heftiges Zuprosten mit dem landesübliche Valpolicella wurde versucht, einen Stuhlhocker wenn schon nicht unter den Tisch, so wenigsten vom Hocker zu trinken. Im fortgeschrittenen Stadium dieser Veranstaltung hatten dann zwar beide Kontrahenten einen sitzen, einen Stuhl hatte aber immer nur einer.

Wer unter diesen Umständen seinen Stuhl bis tief in die Nacht hinein verteidigt hatte, war dafür nicht mehr recht in der Lage, am nächsten Morgen wieder mit den ersten aufzustehen, um weiterhin seine Ansprüche auf ein Sitzmöbel zu wahren. Die Stühle wechselten also ihre "Besitzer".

Nach diesem Muster verlief dann auch der Verteilungskampf am zweiten Tag und es wäre wohl noch einige Tage so weitergegangen. Da aber entsprang den Gehirn-windungen eines blonden Jünglings zu später Stunde noch ein Geistesblitz.

 Bei Nacht und Rotweinnebel erklomm er in tollkühnem, seilfreiem Solo den höchsten der umstehenden Bäume und brachte dort oben seinen Sitz in Sicherheit. Da kein anderer furchtlos oder verrückt genug war, selbst bis in die schwankende Spitze des dünnen Baumes vorzudringen, hatte er damit am nächsten Morgen seinen Sitzplatz sicher - und den Autor zu Geschichte und Titel inspiriert

P.S. Der Autor hatte auch.keine Sitzgelegenheit dabei.